"CARPE DIEM" - Biblische Perspektiven für jeden Tag (D. Schulte)

Artikel St. Antoniusblatt, November 2023, Daniel Schulte

CARPE DIEM

Biblische Perspektiven für jeden Tag

Wir leben und glauben von Tag zu Tag. Im Rhythmus von Morgen und Abend liegt ein großer Segen und eine tiefe Botschaft, die sich nicht nur alltäglich bewährt, sondern gerade auch im Blick auf unseren Lebensabend. Deshalb laden diese Wochen rund um Allerseelen und im beginnenden Ausklang des Jahres zu entsprechenden biblischen Reflektionen ein. Zu einer kleinen, Alltags-Theologie sozusagen – unter dem Motto: „Carpe Diem“

„Dies ist der Tag, den der Herr gemacht…“

Dieses wunderbare Bekenntnis aus Psalm 118,24 mündet wie folgt: „… wir wollen jubeln und uns über ihn freuen!“ Was für eine herrliche, lebensbejahende Gewissheit: Jeder Tag ist ein Geschenk des Himmels und will der Lebensfreude Raum bieten. Mit und trotz allem, was alltäglich dazu gehört: mit Arbeit und Muße, mit Neuanfang und Abschied, mit Freude und Leid – mit allem, was wir haben und allem, was uns fehlt. Und gerade dann, wenn uns die Nöte des Lebens die Freude stehlen wollen, darf eine alternative Lesart des Psalmworts helfen: „… wir wollen uns über IHN freuen!“ Trotzige Freude über die Tatsache, dass Gott da ist und sich nicht entzieht – gerade auch in den schwierigen Zeiten nicht. Seine liebevolle Gegenwart gibt immer Anlass zur Freude, allen Umständen zum Trotz! Dies gipfelt in der großartigen Beobachtung, dass dieser Psalm sich ultimativ in der Auferstehung Jesu erfüllt – denn im Neuen Testament wird diese Aussage auf den Tag der Auferstehung hin zitiert: „Dies ist der Tag, den der Herr gemacht, wir wollen uns über ihn freuen!“ Ja, weil Jesus den Tod überwunden hat, haben wir allen Grund zur trotzigen Freude – Tag für Tag!

Gottes Tagebuch - unser Leben

Nicht nur, dass jeder Tag ein Geschenk Gottes ist, sondern gleichzeitig staunt David in Psalm 139,16: „In deinem Buch sind sie alle verzeichnet: die Tage, die schon geformt waren, als noch keiner von ihnen da war.“ Gott schaut voraus, er weiß, wie es uns geht und gehen wird. Mehr noch: Man könnte auch von einem Drehbuch sprechen – Gott schreibt die Geschichte unseres Lebens. Ihn kann nichts überraschen. Oder wie mal jemand sagte: In meinem Leben spielt Gott keine Rolle – er ist der Regisseur! Und zwar zu unserem Besten. Denn in der Geschichte unseres Lebens lässt Gott uns ganz uns selber sein und schenkt maximale Freiheit – zugleich aber bringt er sich selbst mit ein als aktiver Gestalter. So entfaltet sich der Film unseres Lebens, von Tag zu Tag! Und: Gott kann auch auf krummen Linien gerade schreiben!

Aber welche geistliche Botschaft verbindet sich mit der biblischen Perspektive auf unsere Tage?

Womit der Tag beginnt

Zunächst eine grundsätzliche Beobachtung, die sich praktischer auswirkt, als wir zunächst vermuten würden. In unserem Denken beginnt der Tag am Morgen. Ursprünglich aber war es anders gedacht, wie wir in der biblischen Schöpfungsgeschichte lesen: „Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag.“ Darin liegt eine tiefe und relevante Bedeutung. Diese verbindet sich mit dem, wie das Leben des Menschen überhaupt begann – nämlich nicht mit Arbeit, sondern mit einem Sabbat, einem Feiertag. Adam wurde am sechsten Tag geschaffen und erlebte somit den siebten Tag als Auftakt seines Lebens. Erst danach folgten sechs Arbeitstage. Es ist bezeichnend, dass diese wöchentliche Sabbatstruktur offenbar auch für jeden einzelnen Tag gilt, der entsprechend nicht mit dem Morgen beginnt, sondern mit einem Feierabend und erholsamer Nachtruhe. Mir hilft es zusätzlich, hier das Wort aus Psalm 121,4 anzuwenden: „Siehe, er schlummert nicht ein und schläft nicht.“ Wenn ich das auf meinen Tag übertrage, darf ich also davon ausgehen, dass mein Tagwerk damit beginnt, dass ich Gott wirken und vorbereiten lasse. Ich schlafe mich vertrauensvoll in „die Werke“ hinein, „die Gott zuvor bereitet hat“ (gemäß Epheser 2,10). Ich wache morgens in dankbarer Erwartung darauf auf, dass Gott diesen neuen Tag bereits vorbereitet hat und mich erwartet. Wie befreiend: Es beginnt nicht alles mit mir, es hängt auch nicht alles von mir ab – eine wunderbare Einladung zu Demut und Gelassenheit. Außerdem eine Mahnung, dass ich die nötige, nächtliche Erholung brauche, um leistungsfähig zu sein.

Verkehrte Welt, verdrehte Tage

Obwohl die biblische Tagesstruktur ursprünglich mit dem Abend begann, hat sich schon bald das heutige Denken durchgesetzt: Seit dem Bericht über den Sündenfall (in Genesis 3) ändert sich die biblische Rede zum Thema: Der Tag beginnt nun mit dem Morgen und mündet im Abend – das menschliche Tagwerk hat das erste Wort und die Nachtruhe soll helfen, sich davon zu erholen. Damit zollt die Bibel zunächst den Verhältnissen einer gefallenen Welt Respekt. So ist es einfach, wenn Gottvergessenheit und Menschenüberhöhung Raum bekommen. So ist es, wenn sich gesunde Verhältnisse verschieben. Plötzlich gilt die nächtliche Finsternis nicht mehr nur als Raum der Geborgenheit und Ruhe, sondern dient vielmehr als Metapher für Angst und Bedrohung. Zugleich wird das Tagewerk und Schaffen des Menschen derart überbewertet, dass man den Schöpfer vernachlässigt oder gar vergisst.

Aber auch wenn die Bibel ihre Sprache den Verhältnissen anpasst, führt sie uns zunehmend zurück zur ursprünglichen Sicht des Lebens und unserer Tage. Dies wird u.a. deutlich in Psalm 113,3: „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang sei gelobt der Name des HERRN.“ Ein gesamter Tag (zeitlich umschrieben vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang) soll auf Gott und auf seine Ehre ausgerichtet sein. Und: Womit auch immer wir den Tagesbeginn markiert sehen (Abend oder Morgen) – es kommt letztlich darauf an, wie wir unseren Tagesablauf vor Gott und mit ihm gestalten. Dem wollen wir hier ein wenig weiter nachgehen.

Allmorgendliche Neuanfänge

Inmitten einer verdrehten Welt und bei aller eigenen Begrenztheit und Schuldanfälligkeit dürfen wir lernen, aus der täglichen Gnade Gottes zu leben. Diese Haltung kann so klingen: „Die Huld des HERRN ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist nicht zu Ende. Neu ist es an jedem Morgen…!“ (Klagelieder 3,22-23) So lassen sich unsere Tage wunderbar beginnen: Im Wissen, dass Gottes Güte und Gnade jeden Morgen neu zur Verfügung stehen. Wir brauchen sie und er hat genug davon. Jeder Tag ist eine neue, gottgegebene Chance. Uns werden alltägliche Neuanfänge geschenkt. Diese dürfen wir so begehen, wie es der Prophet Jesaja benennt: „Alle morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Schüler hören“ (Jesaja 50,4) Jeden Morgen gilt es erwartungsvoll zu fragen, was es heute neu zu lernen gilt! Die Schule des Lebens hört niemals auf.

„All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu; sie hat kein End den langen Tag, drauf jeder sich verlassen mag!“

(Kirchenlied von Johannes Zwick, 1541)

Carpe Diem – die Tage gut nutzen

Jeder Tag ist eine Ressource, die es gut zu nutzen gilt. Gott schenkt uns Zeit, Gelegenheiten und Begegnungen, aus denen wir das Beste rausholen sollen. Hier kommt das altbewährte christliche Motto zum Tragen: „Ora et labora“ – alles von Gott erwarten (ora = beten) und alles von uns einbringen (labora = arbeiten). Unsere Mühe ist gefragt und jeder Tag hat davon seinen Anteil. Psalm 104 beschreibt, wie Gott seine Schöpfung alltäglich versorgt. Mittendrin spricht der Psalm zunächst davon, dass die Nacht dazu gegeben wurde, damit gewisse Wildtiere ihr Futter suchen. Dann aber wird der Morgen beschrieben (Vers 23): „Nun geht der Mensch hinaus an sein Tagwerk, an seine Arbeit bis zum Abend.“ Was für eine wunderbare Gottesgabe, arbeiten zu dürfen im Sinne des bekannten Mottos „carpe diem“, das dazu auffordert, den Tag zu „pflücken“. Wir können übersetzen: hole raus, was Gott hineingelegt hat. Ernte, was Gott hat wachsen lassen. Und vergiss in all dem nicht die Dankbarkeit!

Und mittendrin im Arbeitsalltag dürfen wir lernen, uns beständig in Gottes Gegenwart zu wissen. Dazu können Mini-Räume des Betens helfen, die wir uns mittendrin schaffen, kleine Rituale, die uns aufblicken lassen und erinnern: Gott ist da, mittendrin! In all meinem Schaffen ist er genauso aktiv! Mit mir, für mich, trotz mir – mittendrin!

Feierabend und Nachtruhe

Natürlich machen uns gut gefüllte Tage müde. Vor lauter dringenden Erledigungen bleibt untertags mitunter kaum Zeit zum Essen und Erholen, auch nicht zur Reflektion, geschweige denn für Gebet. Umso wertvoller, den Tag geruhsam ausklingen zu lassen. Raum für zweckfreies Dasein und Begegnen genießen, ohne irgendeine Leistung bringen zu müssen. So wie Gott uns nach einer Arbeitswoche einen Tag zur Erholung zugedacht hat, so schenkt er uns nach jedem Arbeitstag den Feierabend.

Und doch wird für viele die Nacht zur Krisenzeit. Probleme des Tages oder Sorgen vor Morgen verfolgen uns und rauben uns gerne den Schlaf. Umso wertvoller, gerade diese Zeiten auch als Räume des Glaubens zu erkennen und zu erleben. So wie es David in Psalm 4,8 bezeugt: „In Frieden leg ich mich nieder und schlafe; denn du allein, HERR, lässt mich sorglos wohnen.“ Welch ein Geschenk, alle Sorgen bei Gott abzugeben und zu wissen: er sorgt sich um mich und übernimmt Verantwortung. Was für eine Gnade, wenn die Nacht wieder werden darf, wozu sie ursprünglich gegeben wurde: Zu einem Raum des Vertrauens und des Wissens, dass alles mit Gott beginnt und bei ihm bestens aufgehoben ist.

Carpe Diem – rund um die Uhr und rund ums Jahr

Und so dürfen uns alltäglich und alljährlich darin einüben, unsere Tage gut zu nutzen bzw. zu pflücken. Das aus ihnen zu empfangen, was Gott hineingelegt hat. Es gilt, jeden Morgen als Chance zum alltäglichen Neuanfang zu nutzen. Es gilt, jedem Tag die Mühe und Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die er verdient und die es braucht, um all das zu pflücken, was Gott wirkt. Und nicht zuletzt gilt es, den Abend und die Nacht als heilige Zeit des Gottvertrauens und der Gottesgabe zu feiern. All das mit dem Grundton der Freude, mit dem Bekenntnis im Herzen und auf den Lippen: „Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat, wir wollen jubeln und uns über ihn freuen!“

Am Abend des Lebens

Und wenn dann irgendwann der alljährliche und alltägliche Rhythmus langsam ausklingt und wir im Abend unseres Lebens ankommen? Dann darf all das, was wir hier miteinander bedacht haben, erst recht zum Tragen kommen.

Wie in einem Feierabend dürfen wir dankbar zurückblicken auf alles, was Gott in unser Leben hineingelegt hat und für alles, was er hat werden und wachsen lassen. Für alles, was ungut war, dürfen wir umso mehr Gnade in Anspruch nehmen, dürfen Vergebung annehmen und aussprechen.

Ebenso aber darf der Lebensabend – im ursprünglichen, biblischen Sinne – als Anfang begriffen werden für einen neuen Tag bzw. für eine neue Dimension des Lebens. Auf wunderbare Weise ist der Lebensabend Abschluss und Neuanfang zugleich. Denn wie hatte Jesus noch zu den beiden Schwestern des verstorbenen Lazarus gesagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.“ (Johannes 11,25-26) Ja, als Christen und Jesugläubige dürfen wir unseren Lebensabend als Auftakt zu einem neuen Morgen begreifen – zu einem Neuanfang in Ewigkeit, die Gott für uns vorbereitet hat und wo er uns liebevoll erwartet! So wahr also Jesus von den Toten auferstanden ist, so wahr darf für uns gelten: „… wir wollen jubeln und uns an ihm freuen!“ (Psalm 118,24).

Und so dürfen wir lernen, alltäglich mit Ernst Ginsberg zu beten: „Ich bitte dich Herr, um die große Kraft, diesen kleinen Tag zu bestehen, um auf dem großen Wege zu Dir einen kleinen Schritt weiterzugehen“!