"BALANCE - Mut zur gesunden Mitte!" (D. Schulte)

Artikel im St. Antoniusblatt (Südtirol), Oktober 2023,
Daniel Schulte

BALANCE

Mut zur gesunden Mitte

Wir können von Seiltänzern und Kajakfahrern vieles lernen: Im Miteinander und im persönlichen Leben geht es darum, stets die gesunde Mitte zu suchen und Extreme bzw. Einseitigkeiten zu meiden. Leider erleben wir unsere Gesellschaft zunehmend als gespalten, die politische Debatte schwer polarisiert – das Verbindende geht verloren. Allzu oft grenzen wir uns ab oder andere aus, betonen manches mehr als anderes. Wie aber kann eine gesunde Balance aussehen? Und was hat unser Gehör damit zu tun – um bei meinem Thema der letzten beiden Ausgaben zu bleiben?

Dieses Thema begleitet mich schon seit geraumer Zeit – und ich möchte dazu einige Gedanken teilen.

Über den letzten Sommer sind mir diesbezüglich drei Freizeiterfahrungen zu vielsagenden Bildern geworden:

  • Während eines Familien-Festivals in Meran haben wir eine sog. Slackline (einen Balanciergurt) zwischen zwei Bäumen gespannt und dazu eingeladen, (in sicherer Höhe) den Balanceakt zu wagen. Um dabei weder rechts noch links „vom Pferd zu fallen“, gilt es, stets den Blick nach vorne zu richten und sich ganz auf die Mitte zu konzentrieren.
  • Später war ich mit einer Gruppe in der Schweiz unterwegs und wir paddelten mit Kajaks auf einem See. Um gut vorwärts zu kommen und außerdem trocken zu bleiben, galt es, möglichst wenig zu schwanken und beide Paddel im ausgewogenen Rhythmus ins Wasser einzutauchen. Außerdem: den Fokus immer geradeaus auf den Horizont halten.
  • Und als ich schließlich mit meiner Familie in den Pfunderer Bergen wanderte, faszinierte mich eine ganze Gruppe von Drachenfliegern, die mit ihren Fluggeräten in 3000 Meter Höhe über unseren Köpfen kreisten, den stolzen Adlern ähnlich. Ein wunderbares Bild, allerdings wollte ich mir lieber nicht vorstellen, was passieren würde, wenn einer der Flügel plötzlich den Dienst versagen würde… auf beide Flügel bzw. auf eine stabile Mitte kam es an.

Slacklining, Kajakfahren und Drachenfliegen – jeweils sehr lehrreiche Erfahrungen. Ja, das Leben darf Freude bereiten – aber stets verbindet sich damit die Verantwortung, eine gesunde Balance zu halten!

Ergänzung als Programm

Wir Menschen wurden offenbar dazu geschaffen, in Spannungsfeldern zu leben. Schon im Schöpfungsbericht beginnt alles mit einem zuverlässigen Tag- und Nachtrhythmus: „Es war Abend und es war Morgen – der erste (zweite, dritte…) Tag!“ Es ist auf Dauer ungesund, den Tag zur Nacht und die Nacht zum Tag zu machen. Beides braucht und bedingt einander – das Ruhen und das Tun, „ora et labora“.

Und dann schuf Gott die Pflanzen und Tiere – „jedes nach seiner Art“, wie wir es im Schöpfungsbericht lesen. Viele im Wasser, andere auf dem Land und in der Luft. Gott ließ dabei offensichtlich seiner Fantasie freien Lauf und bewies seinen göttlichen Sinn für Vielfalt, Farbenfreude und scheinbare Widersprüchlichkeiten.

Als Krönung des Ganzen wurden schließlich wir Menschen geschaffen – und zwar auch in einer spannenden Polarität, als Mann und Frau. Mit allem, was uns daran gegenseitig fasziniert und auch herausfordert. Und wir verstehen, dass unsere Existenz in einer Grundspannung angelegt ist, die offenbar das Leben erst so richtig spannend und wertvoll macht. An unserem gegenseitigen Anderssein können wir uns entweder aufreiben, oder wir können unsere Würde eben darin erkennen, dass wir einander brauchen und ergänzen sollen. Sowohl in Familie und Gesellschaft als auch in der Kirche. Und wenn wir schon von Männern und Frauen reden: Sobald es einen Überhang bzw. eine Überbetonung einer Geschlechtergruppe gibt, wird man das früher oder später als ungesund und nicht förderlich erleben. Wir brauchen eine gesunde Balance, wir brauchen einander!

Genauso können wir überhaupt von der menschlichen Vielfalt sprechen, die sich in unterschiedlichen Kulturen und Sprachen ebenso ausdrückt wie in verschiedenen Persönlichkeiten und Wahrnehmungen. Für unser menschliches Miteinander gilt offenbar, was auch für die Agrarwirtschaft zutrifft: Monokultur ist zwar bequem, aber weder gesund noch schön!

Nun haben wir gesehen, dass schon von Anfang an das Thema der Balance und Ausgewogenheit von unserem Schöpfer angelegt wurde. Einseitigkeiten und Extreme gilt es zu meiden. Eine wichtige Entdeckung, die uns quer durch die Bibel begegnet und ganz praktisch in unserem Leben anwenden lässt.

Weder zu viel noch zu wenig

Da ist beispielsweise der beständige Balanceakt zwischen „zu viel und zu wenig“. Wir sind stets herausgefordert, das rechte Maß zu finden – ich will hier nur kurz drei Aspekte nennen, wo dieses zutrifft:

  • Es gibt ein „zu viel und zu wenig“ im Blick aufs Geld. Das lernen wir u.a. vom alten Agur (Sprüchebuch, Kapitel 30). Zu viel Geld kann ebenso gefährlich werden wie zu wenig. Seine Lösung findet Agur darin, dass er Gott ums tägliche Auskommen bittet und eine ausgewogene Haltung zeigt, die sich weder für das eine Extrem (Armut bzw. Bitterkeit) noch für das andere Extrem (Reichtum bzw. Gier) entscheidet. Das Geheimnis liegt laut Paulus offenbar darin, sich gar nicht ans Geld zu binden und aus dieser inneren Freiheit heraus sowohl mit wenig als auch mit viel umgehen zu können: „…ich habe gelernt, mich in jeder Lage zurechtzufinden: Ich weiß Entbehrungen zu ertragen, ich kann im Überfluss leben. In jedes und alles bin ich eingeweiht: in Sattsein und Hungern, Überfluss und Entbehrung. Alles vermag ich durch den, der mich stärkt – Christus!“ (Phil. 4,11)
  • Dasselbe Prinzip trifft auf unser Angst Davon brauchen wir genug, damit sie uns dient zur nötigen Wachsamkeit und Vorsicht. Sobald die Angst aber übergroß wird und uns beginnt zu beherrschen, lähmt sie uns und macht uns lebensuntauglich. So hat es Petrus auf dem Wasser erlebt, als Jesus ihn aufrief, ihm entgegen zu kommen (Matthäus 14). Genügend Angst ließ ihn vertrauensvoll auf Jesus blicken, zu viel Angst ließ ihn sinken.
  • Nicht zuletzt gilt dies auch für unsere Verantwortung. Wer sich zu viel oder zu viel der falschen Verantwortung aufbürdet, überfordert sich und andere bzw. läuft Gefahr, sich von falschen Zwängen leiten zu lassen und dadurch die innere Freiheit zu verlieren. Das Gegenteil davon sind chronisch verantwortungslose Menschen, die vor den Mühen des Lebens und damit vor der Chance der gesunden Entwicklung davonlaufen. Die biblischen Prototypen dafür finden wir beim verlorenen (charakterlosen) Sohn und seinem älteren, freudlos pflichtbewussten Bruder (Lukas 15).

Wahrheit und Liebe

Und dann das berühmte Paar, das uns im Neuen Testament so häufig begegnet: „Liebe und Wahrheit“, die notwendige Polarität unserer Beziehungen, der Kernstoff des Evangeliums. Beides braucht es zum Leben, aber sie dürfen nie gegen einander ausgespielt werden. Liebe lebt von der Wahrheit und die Wahrheit braucht die Liebe. Das eine kann ohne das andere nicht sein. Nun sind manche von uns eher „Wahrheitstypen“, die in Gefahr stehen, vor lauter „Sachlichkeit“ rücksichts- und lieblos zu werden. Dem gegenüber stehen die „Liebestypen“, die vor lauter Rücksicht und Harmoniebedürfnis Gefahr laufen, sich naiv zu verrennen oder gar die eigene Identität zu verlieren. Welcher Typ wir auch immer sind – wir alle haben unsere Lernfelder und sind herausgefordert, die gesunde Mischung aus Liebe und Wahrheit zu üben.

Unser Leben versteht sich also als ein beständiges Hin- und Her, als ein notwendiger Balanceakt zwischen scheinbaren Gegensätzen, die jedoch einander brauchen. Wir sind dazu geschaffen, immer wieder die gesunde Mitte zu suchen und dafür keine Mühe zu scheuen.

Im Hin und Her des Lebens

Da gibt es einen biblischen Text, der ebenso lyrisch wie wertvoll ist. Im Predigerbuch (Kapitel 3,1-8) lesen wir von vierzehn Gegensatzpaaren, zwischen denen sich unser Leben abspielt. Wie das Ticken einer Pendeluhr begegnet uns hier der Rhythmus des Lebens… tick und tack, tick und tack…

„Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:

eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben,

eine Zeit zum Pflanzen / und eine Zeit zum Ausreißen,

eine Zeit zum Töten / und eine Zeit zum Heilen,

eine Zeit zum Niederreißen / und eine Zeit zum Bauen,

eine Zeit zum Weinen / und eine Zeit zum Lachen,

eine Zeit für die Klage / und eine Zeit für den Tanz,

eine Zeit zum Steinewerfen / und eine Zeit zum Steinesammeln,

eine Zeit für Nähe / und eine Zeit für Distanz,

eine Zeit zum Suchen / und eine Zeit zum Finden,

eine Zeit zum Behalten / und eine Zeit zum Loslassen,

eine Zeit zum Zerreißen / und eine Zeit zum Zusammennähen,

eine Zeit zum Schweigen / und eine Zeit zum Reden,

eine Zeit zum Lieben / und eine Zeit zum Hassen,

eine Zeit für Konflikt / und eine Zeit für den Frieden.“

Vierzehn widersprüchliche Paare, vierzehnmal Hin und Her – wie das Schlagen einer Lebensuhr. Dieser Text lädt zum Meditieren ein – da steckt viel drin. Unsere ganze Lebenserfahrung finden wir hier wieder – mit allen Wechselbädern der Gefühle und unterschiedlichsten Erfahrungen.

Offenbar begegnet uns auch hier wieder die Erkenntnis, dass alles eine Frage der Balance ist. Dass es darauf ankommt, sich nicht nur auf die angenehmen Erfahrungen zu konzentrieren, sondern auch die schwierigen Herausforderungen anzunehmen und sich den Realitäten des Lebens zu stellen. Eine gesunde Mitte lebt davon, dass wir auch scheinbare Gegensätze miteinander verbinden und als Teil unseres Lebens akzeptieren – so wie es übrigens in der sog. „dialektisch-behavioralen Therapie“ zur Anwendung kommt, wie mir erst kürzlich eine Frau erzählte, die mit dieser Methode arbeitet.

Nicht zuletzt scheint es hier auch um die Weisheit zu gehen, wann welche Erfahrung dran ist und welchen aktiven Part wir dabei spielen sollen.

Hier muss ich an das bekannte Gebet denken, das man gerne Franz von Assisi zuschreibt:

„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Wie kann Balance gelingen?

Vieles wurde dazu schon benannt. Zunächst mal beginnt es mit dem Bewusstsein, dass unser Leben als ein Balanceakt konzipiert wurde und wir die Gefahr einer falschen Bequemlichkeit meiden müssen, die uns gerne zur Einseitigkeit oder gar ins Extreme führt. Vielmehr gilt es, die Mühe zu wagen, die das Leben uns abfordert und die es braucht, um immer wieder neu eine gesunde Mitte zu finden.

Damit sind auch Konflikte gemeint, die unvermeidlich sind, wenn unterschiedliche Menschen, Meinungen und Erfahrungen aufeinandertreffen. Konflikte rufen nach Kommunikation – wir müssen lernen, miteinander zu reden und aufeinander zu hören.

Gleichgewichtssinn

Über den Sommer habe ich mich in zwei Artikeln näher mit dem „Hören“ beschäftigt. Und hier liegt auch für unser Thema eine Schlüsselerkenntnis. Denn der menschliche Gleichgewichtssinn befindet sich in unseren Innenohren. D.h. unsere Orientierung im Raum ebenso wie unser Gleichgewicht verdanken wir unseren Ohren.

Wie schön, dass Gott jedem von uns davon zwei gegeben hat – sozusagen im Stereo. Zwei Ohren und nur einen Mund – weil wir dazu geschaffen wurden, doppelt so viel zu hören als zu reden. Darin liegt das Geheimnis einer gesunden Kommunikation und auch unserer Balance.

Hören gilt es aufeinander – auf das, was wir einander zu sagen und zu geben haben. Dabei bedeutet Hören auch bewusstes Zuhören und interessiertes Fragen bzw. Hören-Wollen! Von Frau zu Mann, von Alt zu Jung, von Einheimischen zu Ausländern, von Reich zu Arm… Es gilt zu hören auf das, was uns verbindet – viel mehr als auf das, was uns trennt.

Aber nicht zuletzt gilt es, auf das zu hören, was Gott uns durch die verschiedensten Erfahrungen unseres Lebens sagen möchte. Was er uns verstehen lassen will über uns selbst, über andere Menschen und auch über ihn! Da gibt es viel zu lernen und wir tun gut daran, ganz Ohr zu sein!

In diesem Sinne wünsche ich uns weiterhin ein fröhliches und mutiges Balancieren durchs Leben und durch den Glauben.