"HÖRE & LEBE - Spiritualität und Lebenskunst" (D. Schulte)

Artikel St. Antoniusblatt, Sommer 2023, Daniel Schulte

HÖRE & LEBE!

Spiritualität und Lebenskunst

Im Leben wie im Glauben kommt es aufs rechte Hören an. Deshalb beginnt auch Benedikt von Nursia seine Ordensregel mit dem Ruf „Höre!“ In Umwandlung des altbekannten Sprichwortes könnte man sagen: „Reden ist Silber, Zuhören ist Gold“. Vielleicht hat Gott uns deshalb zwei Ohren und nur einen Mund zugeordnet? Der menschliche Hörsinn ist ein wahres Wunder. Das rechte Hören erweist sich allerdings für viele als große Herausforderung und geht im Störlärm des Alltags gerne unter. Aber es lohnt sich, uns darin immer wieder neu zu üben.

In der ersten Augustwoche dieses Sommers halte ich zu diesem Thema eine Bibelwoche im Liebeswerk. Inspiriert wurde ich dazu inhaltlich von meiner Frau, die seit einiger Zeit in der Hörakustik tätig ist und mich immer wieder an ihren spannenden Erkenntnissen und Erlebnissen teilhaben lässt. An dieser Stelle hoffe ich, meinen Lesern dafür ein wenig das „Ohr zu wecken“.

„Sh´ma Israel“ – alles lebt vom rechten Hören

Bis heute versteht sich das göttliche Wort aus 4. Mose 6,4-7 als jüdisches Glaubensbekenntnis und wird täglich rezitiert: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst.“

„Sh´ma“ – höre! Damit beginnt also alles. Vom rechten Hören her soll sich unser Leben und Glaube gestalten. Diese Aufforderung wollen wir zunächst einfach mal grundsätzlich gelten lassen: „Höre und lebe!“

Ich höre, also bin ich

Das menschliche Ohr ist ein wahres Wunder der Schöpfung. Ihm verdanken wir sowohl unser Gleichgewichtsempfinden und unsere Orientierung im Raum als natürlich auch unser Hörvermögen. Der Hörsinn wird bereits im Mutterleib entwickelt und aktiviert. Schon vor der Geburt hören wir das Herz der Mutter schlagen und werden vertraut mit ihrer Stimme, die uns durch die Bauchdecke erreicht. Spätestens nach dem ersten Lebensmonat ist unser Hörvermögen dann vollständig ausgereift – lange bevor wir je etwas von Schallwellen und ihrem wundersamen Weg über Ohrmuschel und Trommelfell ins Innenohr des Menschen verstehen, wo der Schall zunächst vom Medium Luft in Flüssigkeit übertragen und schließlich in elektro-akustische Signale umgewandelt wird, die schließlich über den Hörnerv das Gehirn erreichen, wo sie als Hörsinneswahrnehmungen dekodiert werden. Wir merken als Neugeborene nur sehr bald, wie großartig es ist, zu hören und gehört zu werden. Schreien wir, kommt die Mama und versorgt uns mit Nähe und Nahrung. Fürchten wir uns, wirkt ihre Stimme so seltsam beruhigend auf unser Gemüt. Irgendwann lernen wir dann zu sprechen und somit unsere Gedanken in Worte zu kleiden, die von unseren Mitmenschen entsprechend decodiert und verstanden werden. Wir erleben, dass akustische Verständigung dem Miteinander dient und wie sehr wir davon leben, dass dies gelingt. Denn, wie schon der große Philosoph Immanuel Kant sagte: „Nicht sehen können, trennt von den Dingen – nicht hören können, von den Menschen“. Deshalb leiden ja so viele hörgeschädigte Menschen gleichfalls unter Einsamkeit.

Die Welt im Stereo entdecken

Ein gesundes Hörvermögen ist ein entscheidender Faktor unserer Wahrnehmung und Lebensqualität. Schon allein, mit offenen Ohren durch Natur zu gehen, eröffnet uns wahre Klangwelten – sozusagen im Stereosound. Wenn wir achtsam dem Plätschern eines Baches lauschen, stellen wir fest, dass dieser mehrstimmig singt. Und erst die vielfältigen Rufe der Vögel und Insekten, oder das Pfeifen des Windes. Überhaupt vernehmen wir um uns herum ein ganzes Orchester von Klängen, sozusagen ein akustisches ABC: wir hören es ächzen, bellen, donnern, flattern, gackern, hallen, jubeln, knistern, läuten, murmeln, nörgeln, pfeifen, quieken, rascheln, schnarchen, tröpfeln, wimmern und zwitschern. Dabei können wir Menschen nur ein gewisses Spektrum an akustischen Signalen empfangen – andere sind zu tief oder zu hoch für uns. Was wir jedoch hören, macht etwas mit uns – es weckt Gefühle und prägt Erinnerungen.

Zuhören lohnt sich

Unsere Wahrnehmung der Welt hängt also eng mit unserem Hören zusammen – vor allem aber unser menschliches Miteinander. Wobei Hören noch lange kein Zuhören darstellt. Denn wirkliches Zuhören kostet Zeit und Zuwendung, ist eigentlich Ausdruck von Liebe. Durch echtes Zuhören vermitteln wir glaubwürdige Wertschätzung und Anteilnahme. Und zugegeben: Die meisten von uns sind chronisch schlechte Zuhörer, denn allzu oft scheuen wir die Mühe, die sich damit verbindet. Und wenn wir zuhören, dann meist „nicht, um zu verstehen, sondern um zu antworten“, wie der Schriftsteller Stephen Covey sagt. Wie wohltuend aber ist es, wenn wir selbst auf Menschen treffen, die uns wirklich wahrnehmen und zuhören, von denen wir uns ernstgenommen und verstanden fühlen, weil sie nicht nur hören was wir sagen, sondern verstehen wollen, was wir damit meinen.

Dabei ist wirkliches Hinhören ja nicht nur ein Ausdruck von Nächstenliebe, sondern birgt auch für uns selbst großen Gewinn: „Wenn du sprichst, wiederholt du nur was du schon weißt. Wenn du aber zuhörst, kannst du Neues lernen.“ (Dalai Lama) Wir sollten also aufmerksamer miteinander umgehen, besser hinhören, gezielter nachfragen und bewusster verstehen wollen – weil es so ungemein vieles zu entdecken und voneinander zu lernen gibt.

Die Resonanz des Schweigens

Eine wesentliche Voraussetzung fürs Hören und Zuhören ist die Stille bzw. das rechte Schweigen. Nur wer zur Ruhe kommt und vom eigenen Reden fastet, kann wirklich aufnehmen, was es zu hören gibt. Nur so entsteht ein innerer Raum zur Resonanz, in dem das Gehörte nachklingen und wirken kann. Eine Übung, die in der Dauerbeschallung unserer modernen Welt sehr aus der Mode gekommen ist – sie will immer wieder neu gesucht und gelernt werden. Aus der Stille heraus nehmen wir jedoch nicht nur einander oder unsere Umwelt bewusster wahr, sondern auch uns selbst – im Schweigen können wir uns sozusagen selber beim Denken zuhören und die Stimme unseres Herzens und Gewissens vernehmen. Wir schenken uns dadurch außerdem selbst Gehör und Beachtung, was zur gesunden Selbstfürsorge gehört. Und nur wer ganz bei sich selbst ist, kann auch Mitmenschen wirklich begegnen und zuhören.

Die Spiritualität des Hörens

Das rechte Hören ist allerdings nicht nur ein Geheimnis der Lebenskunst, sondern auch der Spiritualität. Und das muss wohl so sein, denn Spiritualität ist gelebte Empfänglichkeit für den Gott, dem wir uns verdanken und der uns zur Lebensfreude geschaffen hat. Glaube und Leben dürfen deshalb nie voneinander gelöst werden, sondern bedingen einander. Das bedeutet auch, dass wir alles bisher Besprochene als spirituelle Übung verstehen dürfen – jegliches Hören darf sich als Ausdruck unseres Glaubens verstehen und dazu dienen, dass wir Gott erleben. Sei es im hörenden Entdecken der Schöpfung oder im Zuhören auf andere Menschen oder auf uns selbst – überall dürfen wir Gottes liebevolles Reden vermuten.

Spiritualität ist sozusagen das vertikale Hören, das offene Ohr nach oben. Auch wenn sich diese Art des Hörens durchaus mit unserem Hören nach außen (Schöpfung und Mitmenschen) oder nach innen (eigenes Herz und Gewissen) verbindet, stellt das vertikale Hören auch eine ganz eigene Dimension dar. Denn wir sind dazu geschaffen, mit unserem Schöpfer direkt zu kommunizieren und ihn als Gegenüber wahrzunehmen. Er will sich nicht nur vertreten lassen durch seine Schöpfung, sondern will selbst in direkter Beziehung zu uns stehen und dazu verhelfen, dass unser Leben gelingt.

Hören auf den Gott der redet

Gott liebt es, sich mitzuteilen. Alles Dasein verdankt sich der Tatsache, dass Gott kommuniziert: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.“ (Joh. 1,1-3) Aus der Sicht des Schöpfers beginnt also alles mit dem Reden – aus unserer Sicht jedoch beginnt alles mit dem Hören. Die erste Stimme, die der Mensch im Garten Eden hörte, war die seines Schöpfers, der ihm seine Würde und Lebensaufgabe zusprach („baue, bewahre und genieße“) und ihm gleichzeitig gesunde Grenzen aufwies („von einem Baum sollst du nicht essen“). Aus dem rechten Hören auf Gott erschließt sich also unser Leben. Wobei Gott allerdings den Anspruch hat, dass sein Reden Realitäten schafft – als Schöpfer und Herr-Gott geht er davon aus, dass sein Wort gilt und befolgt wird. So wie schon in der Erschaffung der Welt: „Er sprach… und es wurde!“ Es darf deshalb nicht überraschen, dass die Begriffe „Hören“ und „Gehorchen“ in der hebräischen Sprache eng zusammengehören. Rechtes Hören führt demnach immer auch zum gehorchen bzw. zum rechten Verhalten.

Höre – und liebe, lerne und lebe!

Dass alles mit dem rechten Hören beginnt, sehen wir nicht zuletzt auch im sog. „Sh´ma Israel“, dem jüdischen Glaubensbekenntnis aus 4. Mose 6, wie eingangs bereits zitiert. Am Beispiel Israels wollte Gott zeigen, wie er es für alle Menschen beabsichtigt. Unser Leben soll sich daraus gestalten, dass wir Gottes Reden empfangen und umsetzen. Nur so finden wir das rechte Gleichgewicht und die nötige Orientierung in Raum und Zeit. Und im Kontext von 4. Mose 6 geht es um die ausführlichen Anweisungen für ein gelingendes Leben laut den Geboten, die Gott durch Mose vermittelt hatte. Spannend ist zu sehen, was sich gemäß dem „Sh´ma Israel“ mit dem Hören verbindet.

Gott erinnert zunächst daran, dass Hören zutiefst ein Ausdruck von Liebe ist. Das gilt natürlich auch für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen – Gott aber bezieht es auf unser Verhältnis zu ihm: „Höre… du sollst den Herrn deinen Gott lieben von ganzem Herzen…!“ Bevor Gott zu unseren Gunsten einfordert, dass wir seinen Anweisungen Folge leisten, bringt er alles auf diese einfache Formel der Liebe. Er will, dass wir seine Worte als Ausdruck seiner göttlichen Liebe verstehen und dass wir auf seine Liebe mit Gegenliebe antworten.

Des Weiteren lässt Gott verstehen, dass unser Hören und Gehorchen immer auch einem Lernprozess unterliegt. Gott erwartet nicht, dass wir alles automatisch können – aber er will, dass wir uns in die Schule nehmen und immer wieder erinnern lassen. Laut dem „Sh´ma Israel“ soll dies den nächsten Generationen vermittelt werden („schärft es euren Kindern ein“) und es soll immer wieder in Erinnerung gerufen werden – daheim und unterwegs, morgens und abends. Noch dazu auf kreative, ganzheitliche Weise: „Du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand (all dein Tun soll davon bestimmt sein), und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein (all dein Denken soll davon geprägt sein), und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.“

Daraus und aus den folgenden Abschnitten in 4. Mose 6 lernen wir: Das Hören auf Gott soll unser ganzes Leben umfassen und bestimmen. Mit dem Ziel, dass unser Leben gelingt – denn als Schöpfer weiß Gott, was es dazu braucht und wir tun gut daran, ganz Ohr zu sein für ihn!

Das vielfältige Reden Gottes

Wenn wir uns fragen, wie Gott zu uns redet, darf gelten, wie wir es zum Auftakt des Hebräerbriefes lesen: „Vielfältig und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen…“ (Hebräer 1,1) Oder, wie Sigfried Fietz es in seinem bekannten Lied formuliert: „Gott spricht zu uns aus unzählbaren Welten… durch Botschaften im Alltagsalphabet…“. Ja, Gott teilt sich auf vielerlei Weise mit - durch die unendliche Vielfalt der Schöpfung, durch Kunst und Kreativität. Auch durch Mitmenschen in ihren vielseitigen Lebensweisen und Persönlichkeiten, in die der Schöpfer etwas von sich selbst hineingelegt hat. Immer wieder hat Gott auch durch besondere Erfahrungen oder gar Träume gesprochen. Vor allem aber hat Gott sich entschieden, uns sein Reden schriftlich zu geben. Mit der Heiligen Schrift hat Gott sein Reden in Buchstaben gekleidet. Er hat sich festgeschrieben. Unser Glaube ist deshalb zutiefst ein Buchglaube und weiß sich ebenso an die Bibel gebunden, wie Gott sich daran bindet. Auf den Gott hören, der redet bedeutet also nicht zuletzt, dass wir der Botschaft der Heiligen Schrift viel Raum geben, oder wie Paulus es empfiehlt: „Das Wort Christi wohne mit seinem ganzen Reichtum bei euch. In aller Weisheit belehrt und ermahnt einander… Alles, was ihr in Wort oder Werk tut, geschehe im Namen Jesu, des Herrn.“ (Kolosser 3,16f) Eigentlich finden wir hier ein neutestamentliches Echo des alten „Sh´ma Israels“ – aus dem reichen Hören auf Gottes Wort soll sich unser alltägliches Leben gestalten. Nur dass sich hier das Reden Gottes mit der Person Christi verbindet – und darin liegt das höchste Geheimnis des göttlichen Mitteilens. Dementsprechend geht es beim Auftakt zum Hebräerbrief auch weiter: „…am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben von allem eingesetzt, durch den er auch die Welt erschaffen hat“. Und auch Siegfried Fietz hat dies in seinem bereits zitierten Lied verarbeitet: „Er spricht zu uns schon seit zweitausend Jahren in seinem Sohn, den er uns hat gesandt. Er ist die Lösung aller Lebensfragen. Hast du dich Ihm schon zugewandt?“

Glaube als Dialog

Jesus ist also das Zentrum von allem, was Gott je mitzuteilen hatte. Durch ihn wurde bereits die Welt erschaffen, und auf ihn hin ist alles angelegt. Deshalb wird Jesus ja auch laut dem Johannes-Evangelium als das lebendige Wort Gottes (gr. „Logos“) vorgestellt. Für unseren Glauben bedeutet dies, dass wir nie Jesuszentriert genug Bibellesen und Beten können, dass wir nie Jesuszentriert genug die Welt entdecken und genießen können. Und dass sich die guten Absichten Gottes ultimativ nur mit Jesus erklären und verstehen lassen. Er ist sozusagen der Decoder des göttlichen Redens, auf welche Weise auch immer die Botschaften uns erreichen.

Wenn Jesus also das lebendige und personifizierte Reden Gottes darstellt, dann bedeutet dies für unser rechtes Hören, dass dieses sich an unserer persönlichen Beziehung zu Christus festmacht. Wir dürfen sozusagen unseren Glauben und unser ganzen Leben als einen lebendigen Dialog mit Christus verstehen und gestalten. Wir leben aus dem Hören auf ihn und aus dem Reden mit ihm – jeweils im angemessenen Verhältnis, versteht sich. Unsere Liebe zu Gott darf sich als Liebe zu Christus gestalten. Und diese persönliche Gemeinschaft mit Christus darf sich als Kernzelle unserer Spiritualität und Lebenskunst erweisen. Darin finden wir nicht zuletzt das rechte Gleichgewicht.

Ein Sommer zum Hören-Üben

In diesem Sinne wünsche ich uns für diesen Sommer nicht nur viele Hörgenüsse, sondern auch, dass wir die Wochen dazu nutzen, uns im rechten Hören zu üben. Dabei können folgende Fragen helfen, die ich uns abschließend gerne mitgeben möchte:

  • Was war heute mein schönster Hör-Genuss?
  • Wie sieht es in meiner persönlichen Gesprächskultur mit dem Verhältnis von Hören (2) und Reden (1) aus?
  • Was habe ich heute durchs Zuhören Neues gelernt?
  • Wie kann ich heute dem Störlärm des Alltags entfliehen und im achtsamen Schweigen das Hinhören auf mein Herz und die Natur neu einüben?
  • Welche Bibelworte lasse ich heute bewusst in meinem Herzen nachklingen?
  • Habe ich heute schon mit Jesus über mein Erleben gesprochen und meine Gedanken mit ihm geteilt?